Marina Schwan nutzt Kunst als Instrument, um soziale und geopolitische Themen zu erforschen. Es ermöglicht ihr eine Erkundung von Grenzen und Möglichkeiten, neue Perspektiven zu entdecken und eingefahrene Konventionen herauszufordern.

 

In unserer Gesellschaft ist schriftliche Kommunikation von grundlegender Bedeutung, doch für viele stellt sie eine enorme Hürde dar. Faulheit oder mangelnde Intelligenz sind die Dogmen der Legasthenie. Als Legasthenikerin greife ich dieses Thema auf und setze die Stärken der Legasthenie in den Vordergrund. Kreativität. Auf provokante Art und Weise möchte ich ein Thema zur Schau stellen, welches für die meisten Menschen eine Selbstverständlichkeit ist: Lesen und Schreiben. Doch anstatt den Text klar und deutlich zu präsentieren, reduziere ich Wörter & Buchstaben auf ein einheitliches Element und erzeuge dadurch eine Unkenntlichkeit. Ein unverständlicher Code bestehend aus vielen einheitlichen Symbolen. Auf diese Weise sollen Betrachter*innen ein Gefühl dafür entwickeln, wie es ist, den Wunsch zu haben, etwas zu lesen, es aber nicht zu können.

D010224_D020224_Taschenbücher: mit 782 Seiten, in doppelter Ausgabe wird zum Kunstobjekt: einer Skulptur.

Das Buch ist eine direkte Adaption eines Romans, der für mich von großer Bedeutung ist. Es handelt sich um ein weltbekanntes literarisches Werk, welches sich mit wichtigen moralischen und philosophischen Fragen zwischen Individualismus und Gesellschaft beschäftigt. Der Roman wurde digitalisiert, auf Wörter und Zahlen reduziert und durch die Formatierung an das Originalbuch angepasst.

Der gesamte Text wird in einer aufwendig entwickelten Schrift mit bunten Balken dargestellt. Jeder Buchstabe des deutschen Alphabets ist einer Farbe zugeordnet. Alle Seiten des Buches sind in der entwickelten Schrift 1:1 übersetzt. Diesen Schriftcode zu entziffern und den Inhalt zu verinnerlichen, soll verdeutlichen, mit welchen Herausforderungen Legastheniker*innen konfrontiert sind und welche kreativen Denkweisen dadurch entwickelt werden.

„Think outside the box“ wird Legastheniker*innen hoch angerechnet. Diese Fähigkeit ermöglicht, das Rätsel des Buches zu lösen.

Zwei identische Bücher werden nebeneinander präsentiert. Ein Exemplar wird als eine Art Artefakt betrachtet. Das zweite Exemplar soll durch seinen allgegenwärtigen Ursprung das Publikum ermutigen, mit dem Objekt zu interagieren, es zu erkunden und durchzublättern.

Das Thema Legasthenie bezieht sich auf die Art und Weise, wie wir mit Menschen umgehen. Es ist ein Beispiel für Dogmen, die sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene existieren. Ein allgegenwärtiger Gegenstand, transformiert in ein Kunstobjekt wird an das Publikum weitergegeben. Die Skulptur soll provozieren, konfrontieren und potenzielle Vorurteile beim Publikum aufzeigen.

Als weiteres gestalte ich eine Plattform für die These, dass das Enthüllen von den eigenen Schwächen nicht nur die Eigenreflexion fördert, sondern auch Vielfalt innerhalb der Gesellschaft ermöglicht.

D030123_Schultafel

Die Schultafel symbolisiert die Diskrepanz zwischen dem hohen Leistungsanspruch der Gesellschaft und der immer noch als Schwäche definierten Legasthenie - anstatt einer innovativen Denkfähigkeit. Gleichzeitig demonstriert es die Wichtigkeit von Früherkennung und individueller Unterstützung. Die umcodierten Texte sind von mir verfasste Diktate. Ein Balken steht für einen Buchstaben. Fehler werden durch horizontale Balken dargestellt und korrekte Buchstaben durch vertikale. Wörter sind durch Wortabstände gekennzeichnet. Auf einer gebrauchten, grünen Schultafel sind weiße, Kreide ähnliche Balken aus einer Acryl- Marmormehlmischung in akkuraten Abständen platziert. Die Summe der Balken spiegelt die Rechtschreibung wider. Akribische Umsetzung ist die kreative Offenlegung meiner bisher geheim gehaltenen Legasthenie.

Titelerklärung:

Fehler und korrekte Buchstaben sind durch horizontale und vertikale Balken dargestellt. Ein horizontaler und vertikaler Balken kann als eine X- und y-Achse betrachtet werden. X ist falsch und Y ist richtig. Die Diagonale stellt den exakten Abstand zwischen den beiden Achsen dar und symbolisiert somit das Gleichgewicht zwischen Falsch und Richtig. Die Ausgewogenheit der eigenen Fähigkeiten zwischen den verbindlichen und anerkannten Regeln einer Gesellschaft.

Apr. 2024


Ein Kinderspiel zwischen Macht und Territorium

Prägungen spielen eine entscheidende Rolle bei der Reflexion von „hier und jetzt“. Sie umfassen alle Erfahrungen, Überzeugungen, Werte, Erziehung, kulturelle Hintergründe und persönliche Geschichten. Sie beeinflussen maßgeblich, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen, interpretieren und darauf reagieren.

Als Kind spielte ich das Spiel „Land abnehmen“ in Kasachstan. Täglich versammelten sich Nachbarskinder, um sich gegenseitig mit dem Spiel herauszufordern.

Das Spiel sieht vor, durch geschicktes Messerwerfen den Mitspieler*innen Land abzunehmen. Auf einem festen Untergrund wird ein Kreis in gleichmäßige Flure - je nach Spieleranzahl - aufgeteilt. So wie bei einem Tortendiagramm. Wer beginnt, wird ausgelost. Ein Messer wird gezielt in die Fläche des anderen Mitspielers geworfen. Bleibt das Messer stecken, wird eine Linie in Richtung der Spieler*in vom Rand des Spielfeldes gezogen. Somit wird das eigene Land erweitert. Ziel ist es, die gesamte Fläche für sich zu erobern.

Vor einem Jahr spielte ich das Spiel mit den Kindern der Familie. Mitten im Spielfeld erkannte ich die Parallelen dieses Spiels mit der aktuellen politischen Situation in der Ukraine - Russlands Invasion durch den Angriffskrieg.

Zu keinem Zeitpunkt wurden ich und die anderen Kinder damals über die Thematik des Spiels aufgeklärt. Bis zu diesem Nachmittag im Garten habe ich nicht hinterfragt, warum wir „Land abnehmen“ gespielt haben oder ob es meinen Blick auf die Weltgemeinschaft nachhaltig prägt.

Dieses strategische Spiel versetzt die Spieler*innen in die Rolle von rivalisierenden Nationen, die gewaltsam Gebiete annektieren. War das einfach nur kindliche Spielerei oder unerkannte Instrumentalisierung? Die Parallelen zwischen dem Spiel und der Realität werfen ein Schlaglicht auf die komplexen Herausforderungen, die sich in der realen Welt abspielen.

Inspiriert vom Spiel mit Fläche, Würfen und Linien bewege ich mich barfuß auf einer ungrundierten Leinwand. Pinsel mit Farbe fliegen durch die Luft, während ich Linien mit einem scharfen Malmesser ziehe. In diesem Spiel reflektiere ich die aktuellen Herausforderungen und hinterfrage meine eigene Geschichte. Mit spielerischem Elan drehe ich den Kontext um und erschaffe auf der Leinwand eine neue Realität. Jeder Pinselstich und jede Linie ist ein aktiver Beitrag für den Frieden und eine Botschaft für eine harmonische Welt.

Nachdem die spielerische Phase abgeschlossen ist, betrachte ich die Szene aus der Vogelperspektive. Scheinbar zufällige Elemente werden durch abstrakte Formen neu erschaffen und gewinnen so an Bedeutung.

Klacks und Klecks ist ein Dialog, sich mit den eigenen Prägungen auseinanderzusetzen. Eine retrospektive Betrachtung kann unsere Gegenwart maßgeblich beeinflussen. Während unsere kulturellen Hintergründe und persönlichen Geschichten uns formen, können wir durch einen Perspektivenwechsel unsere gegenwärtigen Überzeugungen, Werte und Prioritäten hinterfragen; neue Erkenntnisse gewinnen und konventionelle Denkmuster durchbrechen.

Apr. 2024


DGT

Eine der gängigsten Regeln in der bildenden Kunst herausgefordert: „Fett über Mager“. Hierbei dürfen dünne Ölschichten nie auf dicke Ölschichten aufgetragen werden.

Leinwände und Papiere werden zuerst mit dicken Schichten von Ölfarben - nach dem Prinzip des Layerings - vorbeireitet. Als weiteres verwende ich statt einer dünnen Ölschicht ein hauchdünnes Papier. Das sogenannte Matrizenpapier. Es ist ein Material, das normalerweise zur Motivübertragung beim Tätowieren verwendet wird. Ich appliziere dieses Papier auf ölige und nasse Grundlage. Mit Druck und freihändigen Bewegungen zeichne ich abstrakte Körperformen. Diese erscheinen zunächst in dunklen Indigo-Tönen, aber durch einen Perspektivenwechsel zum Werk und das Einwirken von Licht wird ein goldener Schimmer sichtbar.

Diese Methode spielt mit Regelbrüchen und scheinbar inkompatiblen Materialien. Es stellt die Verbindung zwischen dem Körperlichen und dem Abstrakten, zwischen dem Individuum und der Gesellschaft dar. Es soll dazu einladen, Perspektiven zu hinterfragen und die Vielfalt und Komplexität der Welt anzuerkennen, jenseits starrer Überzeugungen und oberflächlicher Betrachtungen.

Matrizenpapier überwindet die eigentliche Funktion und verkörpert den Ausdruck für Individualität, Rebellion oder sogar Schmerz. Ein Symbol für die Erlaubnis von Grenzüberschreitungen. Abstrakte, menschliche Silhouetten stehen für das Vermächtnis eines gelebten Lebens, sowie die unumstößliche Legitimität der Existenz.

„Der goldene Twist“ suggeriert eine Wirkung zwischen Zerstörung und Hoffnung, Dunkelheit und Licht, Fragilität und Stabilität. Das Publikum soll damit konfrontiert werden, die menschliche Existenz und ihre Legitimität nie infrage zu stellen, gegen Desensibilisierung zu wirken, und einen aktiven Beitrag für den Frieden und eine harmonische Welt zu leisten.